Welch ein Humbug!
Am vergangenen Wochenende gab es viel Theater am EvB - und welch ein Theater! In einer Fassung von Samuel Horn (EvB-Abi 1999) spielte die Schauspieltruppe um Tobias Schmidt mit musikalischer Unterstützung des EvB-Chors unter der Leitung von Patrick Peuler und einiger Solistinnen sowie einem Posaunenchor in einem hinreißenden Bühnenbild der Truppe um Annika Erlenkötter Charles Dickens' Weihnachtsgeschichte und das Ergebnis war - nein, KEIN Humbug, sondern tolles Theater auf der Höhe der Zeit! Humbug jedoch war der rätselhafte Titel des Stücks, das in der vollbesetzten Aula an vier Abenden zu großer Begeisterung beim Publikum führte.
Die Geschichte? Der Geschäftsmann Skrutzsch scheffelt nicht nur Milliarden mit anrüchigen Börsengeschäften von seinem Büro am Wipperfürther Marktplatz aus, er ist auch ein erklärter Gegner jeglicher weihnachtlicher Anwandlungen und Regungen der Nächstenliebe: „Bah, Humbug!" , kommentiert er solche lauthals und hört nicht auf, seinen einzig verbliebenen Angestellten Kretzschmer - sein Partner Marlich hat vor kurzem schon das Zeitliche gesegnet - nach Herzenslust zu drangsalieren und zu knechten. Kretzschmer kann sich schlecht wehren, er braucht das erhebliche Einkommen bei Skrutzsch, um seinen totkranken Sohn am Leben zu halten und die dazu erforderlichen Arzt- und Krankenhausrechnungen zu begleichen. Damit ist seine ganze Familie vollauf beschäftigt - selbst zu Weihnachten gibt es nur mitgebrachtes Fast Food. Skrutzschs Nichte Frieda Förster, die nur in veralteten Wendungen daher deklamiert und im barocken Reifrock herumläuft, gibt er eine Abfuhr auf ihre Einladung zu Weihnachten, und auch dem Spendensammler, der bei ihm anruft, um für einen guten Zweck zu sammeln, erteilt er eine herbe Absage.
Skrutzsch ist - und so spielt ihn David Lenth denn auch - ein intelligentes, stets etwas zu lautes Scheusal. Seine Entwicklung beginnt erst, als ihm der Geist seines toten Geschäftspartners Marlich erscheint und ihm ankündigt, dass er sich ändern müsse, dies sei seine letzte Chance, nicht in der Hölle zu landen. Zu diesem Zweck werden ihm im Verlauf des Stücks verschiedene Geister erscheinen, die nur sein Bestes wollen, diesmal also NICHT sein Geld. Es beginnt mit dem Geist der Vergangenheit - welch ein Komödiant ist eigentlich unser Hausmeister! - hinreißend überzeichnet von Thomas Eßer. Dieser führt ihm seine Herkunft und seine Missetaten vor Augen mit Hilfe einer... ja, Brecht lässt grüßen... Filmeinspielung für das Publikum. Darin spielen Jürgen Thiel, frisch gegelt und spießigst gestylt, und Eva Schneider Skrutzschs Eltern und Carla Polifka seine inzwischen längst an Leukämie verstorbene Schwester. Schmierenkomödie pur, toll verfilmt in Form einer Sitcom und zurechtgeschnitten von Lukas Künz. Zwar nicht der erste, aber ein besonders starker Brüller im Publikum.
Skrutzsch verändert sich mit der Zeit merklich: Insgesamt vier SchauspielerInnen, neben David Lenth auch noch Yasmin Alester, Antonia Lenth und schließlich Constanze Röger, verkörpern den Prozess einer Wandlung, die auch von weiteren Geistern angestoßen wird. So machen als nächstes Michelle Gille und Annika Loh Skrutzsch das Leben als Geister der Gegenwart schwer, beide bewaffnet durch das Publikum tanzend - achja richtig, wieder Brecht: die Guckkastenbühne alter Prägung war in der Aula aufgelöst, die Akteure kamen buchstäblich überall her - indem sie Skrutzsch vor Augen führten, was er mit seiner Lebensweise und seinen scheinbar leichten Entscheidungen am Computer in der Welt an Leid und Schäden anrichtet. Das war eine richtige Reise über die philosophische Hintertreppe, weder Goethes Faust noch Heraklit durften fehlen. Hier könnte man kritisch ein wenig zu viel des Guten vermeinen, wäre da nicht das tolle Spiel der beiden Geister - ein teuflischer Tanz auf der Höhe der Zeit. Skrutzsch wird geläutert durch Selbsterkenntnis, die Geister führen ihm vor Augen, was alle von ihm halten, was er so anrichtet. In der Welt des Jahres 2015 - so zeigt uns eine Präsentation aus Bildern des Jahres - herrschen Gewalt und Furcht und flüchten die Menschen.
Zum Schluss kommt die Zukunft (Anna Altergot), Skrutzsch begegnet erst dem Psychiater und dann dem Tod, dem des Sohnes seines Angestellten sowie seinem eigenen und ist am Ende. So beschreibt ihn seine Nichte beim Personenraten am Weihnachtsabend als „Schwein", stirbt Kretzschmers Sohn qualvoll trotz Skrutzschs Reichtum, durch den er ihm eine teure, experimentelle Behandlung hätte zukommen lassen können... Der kaltherzige Milliardär ist schuldig, wird aber, ähnlich wie Faust, gerettet durch die (eigene) Nächstenliebe.
Skrutzsch hält es nicht mehr aus, er wandelt sich zum Guten und platziert eine Spende in Höhe von 22 Milliarden Euro bei dem herrlich verqueren Michael Metzler von der Spendenhotline (Patrick Bilstein), der daraufhin vom Stuhl fällt. Er wird - gut weihnachtlich - zum guten Menschen, aber ganz ohne weihnachtlichen Kitsch und Schimmer.
Bereichert wird das Spiel immer wieder durch Musik - dafür waren der EvB-Chor und der Posaunenchor unter der Leitung Frau Nassensteins ebenso verantwortlich wie die beiden Gesangssolistinnen Jana Folak und Vanessa Gardeweg sowie Frau Riemer am Flügel und Svenja Krafft auf der Geige. Das brachte weihnachtliche Besinnlichkeit, stellenweise Fröhlichkeit und Witz mit sich, wenn die Musiker nach dem Muster des antiken Chors das Geschehen kommentierten. Aber es gab auch - wieder ein Brechtsches Verfremdungsmittel - teilweise nur noch schwer erträgliche Geräusche, „Misuk", wenn z.B. die Geister sangen, der Chor mit den Füßen trappelte etc.. Zwischendurch veranlasste eine immer wieder plötzlich die Handlung kommentierende Schülerzeitungsmitarbeiterin (toll gespielt von Kaja Grewe) den Regisseur zur mehrmaligen Umänderung einer Szene, bis diese hinreichend emanzipiert wirkte, eine WDR-Reporterin (Selin Kahl) unterbrach die Handlung für eine Live-Sendung aus Wipperfürth, drei Banker geisterten herum und es gab jede Menge Anstrengungen, das Publikum von den Figuren zu distanzieren und zum Nachdenken anzuregen. Und natürlich die Mitsingangebote, die der Chor in Form von Weihnachtsliedern machte.
Das Ergebnis: Ein geläuterter Skrutzsch, ein gerettetes Kind, eine endlich normale Nichte und viel, viel gute Unterhaltung, ohne dass es nach Beweihräucherung gerochen hätte. Nein, hier hat Regisseur Tobias Schmidt klare Akzente gesetzt, moralisches Handeln IST möglich und sinnvoll auch ohne religiöse Überhöhung, modernes Theater geht wieder am EvB. Sein Dank galt am Ende neben den vielen hinter der Bühne Tätigen und den Technikern besonders dem Autor des Stückes, der es sich nicht hatte nehmen lassen, an drei Abenden der Interpretation seines Textes beizuwohnen. Er wirkte sichtlich zufrieden, wie er da mit den überglücklichen Akteuren minutenlang den tosenden Beifall eines begeisterten Publikums genießen durfte. Das Mega-Projekt „Humbug" hatte jede Regung der vielen hundert Hände ehrlich verdient. Tolles Theater!
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